Fotoarchiv Gade

1932. Urlaub in Algerien. Tunesien. Rom und Marseille

Dokumentation einer Reise auf 6x9 Negativen

2020 @ Thomas Gade


Die 6x9 Negative wurden chronologisch anhand der Signaturen sortiert und in neue Polypropylenhüllen gesteckt.

1932 ist ein Jahr, mit dem viele wohl nur wenige Vorstellungen vom normalen Leben verbinden. Der erste Weltkrieg (1914 – 1918), gefolgt von den Roaring Twenties (1920 – 1929) und einer massiven Weltwirtschaftskrise (1929), Spanischer Bürgerkieg (1936 – 1939) und der zweite Weltkrieg (1939 – 1945) bilden Eckdaten im historischen Wissen viele Europäer. Die Olympischen Spiele in Los Angeles waren 1932 ein Highlight. In dem Jahr wurde im Deutschen Reich die NSDAP zur stärksten Partei.

Wie macht man damals im Urlaub? Häufig befinden sich in fotografischen Nachlässen Bilder von Wandergruppen oder aus Seebädern an der Küste. Globaler Tourismus war nur für wenige denkbar. Fotos aus fernen Ländern stammten meistens von Leuten, die aus beruflichen Gründen dort waren. Der zivile Flugverkehr stand noch in den Anfängen.

Deshalb erstaunen die Fotos in diesem Konvolut. Ein junges Paar, das recht modern wirkt, unternimmt eine Reise nach Italien, Frankreich, Tunesien, Algerien und zurück. Es dokumentiert die Reise auf Negativen im Format 6 × 9.

Zum Fotografieren konnte man bereits den Kleinbildfilm verwenden. Die erste Leicas wurden 1924 hergestellt und im Dezember des Jahres ausgeliefert. 1932 erschien die Leica II mit eingebautem Entfernungsmesser, für die es bereits sieben Wechselobjektive gab. Aber noch fotografierten viele mit Kameras für größere Formate. Die relativ hohe Bildqualität in diesem Konvolut ist auch dem größeren Aufnahmeformat zu verdanken. Fotos auf Kleinbildfilm aus 1932 war durch die damaligen Eigenschaften der Filme, aber auch der Fototechnik und der nur 24 × 36 mm messenden Aufnahmefläche bei weitem noch nicht so gut, wie nur wenige Jahre später.

Deshalb ist es erfreulich, dass die Reisenden ein größeres Format verwendet haben. Die 6x9 Negative wurden in einem Ordner mit 80 abheftbaren Pergaminhüllen mit jeweils vier Einstecktaschen für Negative aufbewahrt. Insgesamt enthielten sie 306 Planfilme aus einem dünnen Material.

Das Konvolut erhielt ich in den späten 1990ern. Bei der Übergabe der Negative hieß es, dass die Bilder auf einer Reise nach Afrika vor dem Zweiten Weltkrieg aufgenommen wurden. Leider stellte ich damals keine weiteren Fragen oder bat um etwaige dazugehörige Notizen, weil ich die alten Bilder anfangs nur als Schulungsmaterial für Mitarbeiter in der Fotokonservierung betrachtete und mir inhaltlich wenig davon versprach.

Was zeigen die Fotos?

Ein junges Paar reiste mit der Bahn nach Rom und Marseille. Von dort wurde die Reise per Schiff oder Flugzeug nach Tunis in Tunesien fortgesetzt, dann nach Algerien und anschließend auf einem Schiff über das Mittelmeer zurück nach Europa. Die Stationen ließen sich anhand der Fotos ungefähr nachvollziehen. Die Strecken wurden in Bussen, Eisenbahnen und auf Schiffen zurückgelegt. Die Bilder zeigen Szenen von Land und Leuten aus Orten und der Wüste. Mangels Notizen und fehlender Ortkenntnisse wurden die Bilder nur mit einer spärlichen Beschriftung ins Netz gestellt. Anfangs vermutete ich, dass die meisten Fotos in Algerien aufgenommen waren. Leider sind nur auf wenigen Fotos Plakate oder andere beschriftete Gegenständezu mit Ortsangaben zu sehen. Die Bilder waren zu alt, um bei Google-Images passende Vergleichsbilder zu finden.

Datierung der Fotos in das Jahr 1932



Einige Aufnahmen aus Marseille zeigten eine Schwebefähre, die während des Zweiten Weltkriegs gesprengt wurde. Ebenfalls aus Marseille stammten zwei Fotos, auf denen Wasserflugzeuge des Typs Dornier Wal zu sehen waren. Beide wurden von der italienischen Fluggesellschaft SANA zwischen Genua und Gibraltar mit Zwischenstopps u.a. in Marseille und Barcelona eingesetzt, eines von 1930 bis 1934 und das andere von 1927 bis 1933, wie mithilfe der Kennzeichen ermittelt werden konnte.



Auf einer Litfaßsäule in einer afrikanischen Stadt wurde für den 4. April 1932 in französischer Sprache eine Veranstaltung im Palmarium angekündigt. Das Palmarium ist in Tunis in Tunesien. Dieses Plakat lässt den sicheren Schluss zu, dass die Reise 1932 stattfand.

Erschließung der Fotos


Jedes Negativ ist signiert. Die erste Zahl gibt ein Filmpack an und die zweite Zahl eine dazu gehörige fortlaufende Nummer. Daher war es möglich, die Negative chronologisch zu sortieren. Das erleichterte die geografische Zuordnung.

Was wurde fotografiert?

Leider hatte ich keine Aufzeichnungen mit den Negativen erhalten. Gut möglich, dass es mal welche gab. Dafür sprechen die individuellen, handschriftlich aufgetragenen Signaturen auf allen Negativen. Sie hätten konkrete Zuordnungen zu schriftlichen Notizen ermöglicht.  Falls es solche Aufzeichnungen zu den Bildern gab, waren sie für die weitere Erschließung verloren.

Die Erschließung der Bilder musste sich also aus ihnen selbst ergeben. Klar erkennbar hatte ein junges Paar eine Reise dokumentiert. Da ihre Kleidung mehrfach an verschiedenen Orten zu sehen war und die beiden immer gleich aussahen, ist anzunehmen, dass es sich um eine und nicht um mehrere Reisen handelte.  Die Stationen ließen sich anhand einiger bekannter Gebäude nachvollziehen, wie die Schwebefähre von Marseille.


1932. Fotos der beiden Reisenden und Fotografen. Ihre Namen sind unbekannt.

Nach dem Besuch einiger Städte am Mittelmeer, setzten die Reisenden nach Afrika über. Entweder geschah das von Marseille nach Algier oder aus Italien (Neapel oder Palermo) nach Tunis. Möglicherweise wurde eine Strecke für die Hinfahrt und die andere für die Rückfahrt genommen. Das lassen Bilder aus Rom und Marseille vermuten.

Unsere Reisenden waren in Algerien, das zwischen 1881 und 1962 französisches Staatsgebiet war sowie in Tunesien, das als Protektorat ebenfalls Frankreich unterstand. Sie besuchten europäische Franzosen, die in Algerien ansässig waren. Die Herren trugen in der Öffentlichkeit elegante Anzüge und als Kopfbedeckung den Fes (auch Fez), benannt nach der Stadt Fès in Marokko.

Gegen die naheliegende Rückkehr durch Marokko nach Europa über die Meerenge bei Gibraltar sprach das Fehlen dazu passender Bilder. Beeinflussten die politischen Unruhen Spaniens, die 1936 zum Bürgerkrieg führten, diese Entscheidung? Bereits 1932 gab es dort einen Umsturzversuch mit Schießereien.

Unterstützung aus Foren im Internet

Meine persönlichen Kenntnisse reichten nicht für eine geographische Zuordnung der afrikanischen Bilder aus oder um zu beschreiben, welche Bauwerke oder Oasen auf ihnen zu sehen waren.

In der Hoffnung um Hilfe aus dem Internet, wurde ein Großteil der Fotos auf meiner Website medienarchiv.com veröffentlicht. Danach bat ich mit Verweis auf die Seiten in Foren um Unterstützung, unter anderem bei wuestenschiff.de, wo sich Afrikareisende austauschten. Mehrere Teilnehmer erkannten Orte und Bauwerke, wie Moscheen oder Stadttore und konnten wertvolle Hinweise liefern. Die Angaben erlaubten weiterführende Recherchen mithilfe von Google, sodass allmählich ein Puzzlestein zum anderen fand.

Mit dieser Unterstützung konnte der Bestand zwar nicht komplett erschlossen werden, aber die sichere geographische Zuordnung fast aller Bilder wurde so ermöglicht und für zahlreiche Aufnahmen auch individuelle, detaillierte Beschreibungen.

6x9 Planfilm aus Filmpacks

Die Planfilme dieses Konvoluts messen 60 x 88 mm und die darauf belichteten Fotos 58 x 82 mm. Das entspricht dem 6 × 9 Format. Leider stehen Hersteller und weitere Bezeichnungen nicht auf den Filmrändern, um mehr über das konkrete Aufnahmematerial zu erfahren. Es ist nicht besonders feinkörnig, was aber durch die relativ große Filmformat kompensiert wird. Vermutlich wurde ein für damalige Verhältnisse relativ hochempfindlicher Film (max. ISO 100) verwendet. Erkennbar ist das Korn allerdings erst nach dem Scannen auf einem großen Monitor bei der Suche nach lesbaren Infos auf Litfaßsäulen oder Plakaten.

Alle Filme waren gleich groß, exakt rechteckig und hatten gerade Ränder. Sie konnten deshalb nicht mit einer Schere aus einem Rollfilm herausgeschnitten worden sein. Bei vielen hafteten noch dünne Papierstreifen an einer schmalen Seite. Darüber hinaus wiesen alle am Rand eine kleine Druckstelle auf von der Klammer zum Aufhängen nach der Entwicklung.

Diese Merkmale passten zur Verwendung von 6x9 Film Packs. Sie bestanden aus einer dünnwandigen lichtdichten Schachtel aus Blech oder stabilem Karton. und enthielten 12 Planfilme, die mit einem lichtundurchlässigen, schwarzen Papierband verbunden waren. Das Film Pack war ein Filmmagazin mit zwei übereinanderliegenden Kammern für belichtetes und unbelichtetes Material. Film Packs ermöglichten einen zügigen Filmwechsel bei Tageslicht, der jeweils durch das Herausziehen einer Papierlasche vorgenommen wurde. Der Austausch der Film Packs konnte ebenfalls im Hellen erfolgen. In der Dunkelkammer war das Entnehmen bereits belichteter Planfilme zur Entwicklung möglich, während in der anderen Kammer noch unbelichtete Planfilme vorhanden waren. Anhand der Nummern auf den Papierlaschen zum Filmwechsel wusste man immer, wie viele unbelichtete noch verfügbar waren.


Die Negative stecken in abheftbaren Pergaminhüllen aus deutscher Produktion, aus denen u.a. "Film Nr." und "D.R.P" (bedeutet: Deutsches Reichspatent) und D.R.G.M. (bedeutet: Deutsches Reich Gebrauchsmuster) gedruckt ist.

Eine gute Darstellung dieser Technik bietet die Website: https://bit.ly/2TEkl0e von Early Photography. Dort werden verschiedene Halter für Planfilme oder Glasplatten gezeigt und ihr Mechanismus teilweise mit Grafiken erläutert, unter anderem auch für Film Packs.

Im Mittelformat entschieden sich die Fotografen jedoch immer stärker für den Rollfilm, der auch heute noch zu haben ist, während Film Packs seit einigen Jahrzehnten nicht mehr produziert werden. Das sollte man beim Kauf historischer analoger Kameras bedenken, wenn diese nicht für die Vitrine bestimmt sind, sondern zur weiteren Verwendung.

Fotoapparat

Die bisherigen Erkenntnisse lassen Vermutungen über den verwendeten Kameratyp zu. 6x9 Film Packs konnten mit Klappkameras verwendet werden. Zusammengeklappt sind solche Kameras etwa so groß wie ein Taschenbuch und wiegen weniger als 1 kg. Da das junge Paar nur mit leichtem Gepäck unterwegs war, ist anzunehmen, dass dieser Kameratyp verwendet wurde. Die gute Bildqualität sprach für ein hochwertiges Modell und für gute fotografische Fähigkeiten auf Seiten der Fotografen, die Entfernungen zum Scharfstellen schätzen mussten und sicherlich keinen Belichtungsmesser hatten.

Brandgefährlicher Nitratfilm

Der transparente Schichtträger dieser Negative besteht aus Nitrozellulose, die aus feinen Baumwollresten, Schwefel und Salpetersäure hergestellt wurde. Die sogenannten Nitro- oder Nitratfilme zählen in Deutschland zu den Sprengstoffen. Sie können sich ab etwa 38 °C selbst entzünden. Außerdem zersetzen sie sich im Laufe der Zeit und erzeugen dabei säurehaltige Gase, die für andere Fotomaterialien schädlich sind.

Nitratfilme erschienen als Celluloid Filme erstmals 1889 auf den Markt und wurden bis Ende der 1950er produziert. Sie boten die erste gute Alternative zu den schweren zerbrechlichen Glasplatten und waren eine wichtige Voraussetzung, um Kinofilme zu drehen sowie zur mobilen Fotografie mit leichtem Aufnahmematerial und bequemer Handhabung. Die Gefährlichkeit dieses Materials kann hier nur am Rande erwähnt werden. In Kürze: Wertvolles Bildmaterial ist möglichst bald auf sicheres Material zu reproduzieren und/oder in hoher Auflösung zu digitalisieren. Danach können die Originale als Sondermüll entsorgt werden. Im Internet und beim Bundesarchiv in Koblenz gibt es dazu weitere Infos.