Fotoarchiv Gade

Hans Martin Sewcz

Konzeptkünstler und Fotograf

2022 - Text: Thomas Gade

Hans Martin Sewcz, 1955 geb, in Halle, wuchs in der DDR auf. Von 1978 bis 1981 studierte er an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig und schloss als Diplom-Fotografiker ab. Aus der Verwandtschaft erhielt er nach dem erfolgreichen Studienabschluss eine Nikon FE. Das war eine aus Japan stammende Spiegelreflexkamera für den Kleinbildfilm. Zuvor fotografierte er mit Kameras von Praktika. Zu DDR-Zeiten belichtete er hauptsächlich Schwarzweißfilm von ORWO.

Schon früh störte den angehenden Künstler die Enge der DDR. Westliche Künstler und ihre Möglichkeiten inspirierten ihn. Deshalb beantragte er 1983 die Ausreise in den Westen, die ihm dreieinhalb Jahre später, 1987, bewilligt wurde.


1980. Russland. Mokau. Im GUM. Hans Martin Sewcz sitzt an der Kante des Brunnens und ißt ein Eis.

Trotz seines Ausreiseantrags erhält Sewcz als freiberuflicher Journalist Fotoaufträge. Um an sie zu gelangen, benötigt er eine Steuernummer, die ihm durch Empfehlung eines in der DDR bekannten Fotografen, Arno Fischer, gewährt wird.

Für die VEB Florena, die Produkte zur Körperpflege herstellt, erstellt Sewcz Werbeaufnahmen und erhält für die Aufnahmeserie 8000 Mark. Eine Menge Geld in der DDR. Außerdem ergatterte er diverse Aufträge aus Museen, die ebenfalls gut bezahlt werden und kann sich bei Knappheit aber auch auf die Unterstützung seiner Familie verlassen.

1987 darf er die DDR verlassen. Seine Schwester schickt ihm zehn Weinkisten, die mit seinen Fotos und Belegen seiner Arbeiten gefüllt sind. Sie übergibt sie dem Zoll, der die Weiterleitung an dem in Westberlin lebenden Sewcz organisiert.

Den ersten Tag nach der Umsiedlung in den Westen verbringt er im Notaufnahmelager, das üblicherweise die Anlaufstelle für ausgereiste DDR-Bürger ist. Rasch kann er ein Zimmer in einer Kreuzberger Wohnung anmieten, in der außer ihm noch eine Frau mit zwei Kindern lebt.

Sewcz, der bislang hauptsächlich schwarz-weiß fotografiert hat, kann nun Farbfilme aus westlicher Produktion verwenden, die bessere Farbfotos liefern als Colorfilme von ORWO aus der DDR. Fortan nutzt er vor allem Farbfilme.

Sewcz dokumentiert mit einer für ihn typischen Sichtweise Menschen in ihrer Umgebung, städtebauliche Veränderungen und Warenangebote. Scheinbar Banales, das im Alltag oft nur flüchtig wahrgenommen wird, wie Drogerieprodukte im Schaufenster, wird durch Sewcz’s Fotos interessant.

Sewcz dokumentiert Menschen in Alltagssituationen, bizarren Arrangements und im schrillen Szeneauftritt. So produzierte er 1976 eine umfangreiche Porträtserie, für die er seine damaligen Kommilitonen vor die Betonwand eines Leipziger Plattenbaus stellte. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Stadtlandschaft. Seine Panoramafotografien aus Berlin Mitte zeigen das heruntergekommene Scheunenviertel zu DDR-Zeiten. Später interessierten ihn die Veränderungen am Potsdamer Platz.


1979. Berlin. Prenzlauer Berg. Hinterhof. Großmutter mit Zeitung, Mutter und Kinder.

Als eher stiller Beobachter trieb Sewcz sich in Bars, angesagten Nachtlokalen herum und besuchte schon früh Raves. Er kannte prominente Personen in diesen Milieus. Dort entstandenen Fotos und Filmaufnahmen, mit zeitgeschichtlichem Wert.

1981 fotografierte er für seine Diplomarbeit ‚Berliner Gesichter‘. Er wurde zur Schulabschlussfeier einer Klasse eingeladen, deren Schüler mit ihren Eltern und Angehörigen eine Dampferfahrt unternahmen und ausgelassen feierten. Die Dampferfahrt begann und endete im Hafen Treptow beim Treptower Park und man fuhr auf der Spree. Nicht ein Foto widmet sich dem Ausblick von Bord auf die Umgebung. Sewcz konzentrierte sich ausschließlich auf die Menschen. Niemand zeigte sich fotoscheu, alle waren entspannt und häufig ist die freundliche visuelle Verbindung zu den Personen erkennbar.

Zur muffigen Vorstellung eines tristen Lebens in der Deutschen Demokratischen Republik passen solche Bilder nicht. Sie enthalten keine politische Aussage und keine gesellschaftliche Bewertung. Sie zeigen aus Sicht eines integrierten Teilnehmers ein fröhliches und harmonisches gesellschaftliches Miteinander, in dem die Eltern völlig entspannt hinnehmen, dass ihre ca. 18-jährigen Sprösslinge ungeniert miteinander flirten und alkoholische Getränke konsumieren. In dieser Hinsicht ging es in der DDR auf jeden Fall freizügiger zu als in der BRD. Die gleiche echt empfundene Toleranz täte dem heutigen Miteinander von Jung und Alt gut. Niemand verstellte sich, niemand warf sich in Pose wie in späteren Jahrzehnten für Darstellungen in den sozialen Medien.

1987 wurde Sewcz nach dreieinnhalbjähriger Wartezeit die Ausreise aus der DDR gestattet. In den späten 1980'ern experimentierte Sewcz mit Farbfilmen, entdeckte spannende Symbole, knalliges Gelb oder Rot oder einen Hamburger für großformatige Prints. In den 1990'er beschäftige er sich intensiv mit Video. Er holte Menschen vor die Kamera, ließ sie etwas vor einem gleichbleibenden Hintergrund sagen und ausdrucksvoll gucken. Er nannte den Film "Fisches Nachtgesang" und schickte sein Werk weltweit auf Ausstellungen. Zudem filmte er kultige Raves im Freien außerhalb Berlins.

Sewcz beließ es nicht bei Fotos. Er trug noch eine einzigartige Sammlung aus Warenverpackungen und Produkten aus der ehemaligen DDR zusammen. Es gelang ihm, das bedruckte Material zum Herstellen von Verpackungen für Flüssigkeiten (ähnlich wie Tetrapacks) zu bekommen. Die Druckerzeugnisse wurden noch nicht geschnitten und zu Packungen gefaltet. Sewcz hatte den nötigen Weitblick, die Motivation und auf die Fähigkeit, das Material aus den Druckereien zu bergen und zu bewahren.

Er lagert das Material in Berlin. Eigentlich gehört es in ein Museum, das gute Möglichkeiten zur Präsentation und konservatorisch einwandfreien Archivierung bietet. Es gibt geeignete Häuser, aber bislang fehlt ihnen die Bereitschaft zur finanziell fairen Honorierung des Zusammentragens und Bewahrens der kulturhistorisch bedeutsamen Designprodukte aus einer vergangenen Ära. Sie verpassen damit die Chance, es in ihrem Bestand aufzunehmen und wertvolle Informationen vom Zeitzeugen Sewcz aus erster Hand zu erhalten.

Arbeiten/Ausstellungen

Seit 1985 stellt Sewcz eigene Werke aus. Eine Liste seiner Ausstellung ist auf seiner Website zu finden:

Hans Martin Sewcz - Vita und Ausstellungen / https://www.hansmartinsewcz.com

Werke von Hans Martin Sewcz befinden sich in diversen Museen und Fotosammlungen sowie in mehreren Büchern und Zeitschriften.

Ausschnitte aus seinen Arbeiten

Klicken Sie auf die Fotos, um mehr zu sehen!


1990 Ostberlin - DDR Kaufhalle - Getränke

1986. Modeschau im Palast der Republik in Berlin


1980. Russland. Moskau. Menschen im GUM



1979. Mecklenburg-Vorpommern. Dudendorf.



1981. Berlin. Feier auf einem Fahrgastschiff auf der Spree

Weiterlesen: Portraitserie in Leipzig. Studenten vor der Kamera. 1976